Pinguine und Proteste

Nach einem entspannten Frühstück ohne Milchpulver und einem der wenigen guten Kaffees in Südamerika brachen wir am 19.12. nach Punta Arenas auf, mit 130.000 Einwohnern die südlichste Großstadt der Welt. Ursprünglich Strafkolonie, dann Freihafen war sie über viele Jahrhunderte Station einer der wichtigsten Handelsstraßen der Erde. Vielleicht haben wir in der rauen Hafenstadt auch nur nicht die schönen Ecken gefunden, aber wir sehnten uns schnell zurück nach dem Charme der kleinen Örtchen Südpatagoniens (deswegen auch keine Fotos – wie wir gerade festgestellt haben).

Zu unserer Überraschung und Freude erfuhren wir von unseren hier ansässigen gleichnamigen Zeitungskollegen www.elpinguino.com , deren Leserschar allerdings etwas größer sein dürfte und auf den ersten Blick auch sensationsgieriger zu sein scheint…

Auf unserem Programm stand ein Tagesausflug zur Isla Magdalena, zu der die Touristenmassen mit Speedbooten gebracht werden, denn hier nisten jedes Jahr angeblich 10.000 Magellan-Pinguin-Pärchen. Über einen vorgegebenen Pfad spaziert man eine Stunde sehr nah an den frei lebenden Tieren vorbei und muss ihnen teilweise ausweichen bzw. Platz machen, wenn sie den Pfad kreuzen. Vereinzelt konnten wir einen Blick auf die grauen, plüschigen Jungtiere erhaschen, die die in Höhlen angelegten Nester noch nicht verlassen wollten (oder durften). Es bestand ein konstantes Schnattern und Quäken der immer sehr geschäftig aussehenden Tiere, in das sich noch das Schreien der Möwen mit einmischte.

Nachdem wir am Abend die lokale Spezialität king crab gekostet hatten, kamen wir den chilenischen Protestaktionen erstmals überraschend nah. (Eigentlich sollte es nicht so sehr überraschen, waren wir doch 1. in einer Großstadt, in der 2. auch eine Uni angesiedelt ist. Aber es war eben das erste Mal nach dem dünn besiedelten Patagonien, hatten wir doch Santiagos Zentrum absichtlich „übersprungen“). Auf dem Weg zur Lokalbrauerei fürs Feierabendbier entdeckten wir zunächst die voll gepanzerten Mannschaftswagen der Polizei mit einzelnen, aufs Handy blickenden Polizisten und bereitgestellten Absperrgittern für eine Straßensperre. Es war aber alles ruhig und niemand interessierte sich für uns. Erstmals sahen wir Spuren der Straßenproteste, wie Graffities und zusätzlich gesicherte Bankfilialen. Später am Abend erschallten von einer kleinen Bühne am Plaza de Armas zunächst Livemusik und Sprechchöre. Später zogen geschätzt mehrere hundert Chilenen, begleitet von Trommelrhythmen und bengalischem Feuer durch die Hauptstraßen. Alles lief sehr friedlich ab, die Polizei stand am Straßenrand – wie wir. Andere chilenische Brauereigäste, darunter eine englisch sprechende Lehrerin, sprachen uns an, in was für einer aufregenden Zeit wir grade in Chile seien und erzählten uns ihre Sicht der Dinge.

Zusammengefasst ist Chile trotz seiner guten Wirtschaftsentwicklung auch 30 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur geprägt von Armut und sehr großer Ungleichheit. Ursprünglich im Herbst 2019 in Santiago durch die Preiserhöhung der Metro-Fahrscheine um 30 Pesos (etwa 3 Cent) ausgelöst, weiteten sich die Demonstrationen schnell zu einer landesweiten Bewegung für Reformen aus, die von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragen wird. Im Mittelpunkt stehen das unzureichende Altersvorsorgesystem, die Strompreise (in Chile ist Strom seit Pinochet privatisiert) und die hohen Kosten für Bildung und Gesundheit. Wir selbst erleben im Supermarkt einen Teil der hohen Lebenshaltungskosten (ein Lebensmitteleinkauf ist mindestens so teuer wie in Deutschland). So bleibt z.B. auch der Mittelschicht am Ende des Monats kein Geld übrig.

Die Fahrpreiserhöhung wurde im Verlauf rückgängig gemacht, Reformen wurden zumindest angekündigt und Präsident Piñera entließ mehrere Minister, ohne selbst seinen Posten zu verlassen (was hier lautstark und nachdrücklich gefordert wird). Auch die chilenische Lehrerin an dem Abend bestärkte wieder die Forderung nach einer grundlegend neuen Verfassung, die die aktuelle, noch aus der Militärdiktatur stammende, ablöst. Darüber wird im April 2020 abgestimmt und alle sind sich einig, dass es dann wieder zu einer deutlichen Ausweitung der Proteste kommen wird.

Am nächsten Morgen trat Annette den Rückweg nach Heidelberg an und wir machten uns auf den Weg zum Campervan-Verleiher.

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